Gedanken zur Zeit

6. Oktober 2021

Hümmling – Während meines ersten USA-Besuchs vor Jahren fiel mir schon auf, wie hervorragend die Amerikaner eine Schau gestalten können, indem sie die Wirklichkeit schöner, härter, lieblicher usw. darstellen; kurz, indem sie die Realität überhöhen. Zugleich beschlich mich die Ahnung, dass einige Amerikaner Schau und Wirklichkeit nicht mehr unterscheiden können, evtl. sogar die Schau für die Wirklichkeit halten.

Dazu fiel mir das in der Philosophie bekannte Höhlengleichnis von Platon ein. (Heute würde man es Gedankenexperiment nennen. Bei Platon steckt in dem Gleichnis eine etwas andere Absicht als in diesem Artikel.) Das Gleichnis in Kurzfassung: Platon lässt seinen Lehrer Sokrates berichten, in einer Höhle seien Menschen ihr ganzes Leben lang so fixiert, dass sie nur nach vorne sehen könnten. Hinter ihnen befinde sich eine Lichtquelle, an der alle möglichen Figuren vorbeigeführt würden. Das könnten die Mensch natürlich nicht erkennen, da sie ja nach vorne schauen müssten. Dort sähen sie an der Höhlenwand die Schatten der vor der Lichtquelle vorbeigeführten Figuren und hielten diese für die Wirklichkeit. Nun gelange einer dieser Höhlenmenschen ins Freie, sehe mit der Sonne erstmals eine Lichtquelle von vorne und könne die Wahrnehmung von Menschen, Tieren und allem anderen zunächst nicht begreifen. Er nähere sich dieser Realität an und werde von ihr immer mehr angesprochen. Dann kehre er in die Höhle zurück und schildere den Menschen dort die schönere Außenwelt. Die Menschen in der Höhle reagierten abweisend, hielten die Außenwelt für Lug und Trug, wollten lieber in ihrer gewohnten und gemütlichen Höhlenwelt bleiben und verdammten den „Außenweltler“.

Dieses über 2300 Jahre alte Gleichnis hat immer noch eine erstaunliche, evtl. erschreckende Gültigkeit. Als ich einmal eine Buschpiste in Botswana befuhr, blickte ein Mitreisender, der keinerlei Anzeichen einer einschränkenden Psychose zeigte, permanent auf sein Smartphone. Er hatte die Pisten darauf geladen und verwies immer wieder auf die Wegstrecke: geradeaus, dann links, nach einigen Kilometern rechts ab usw. Wäre ein Löwe auf seinem Phone gewesen, hätte er vielleicht angesagt, wann ein Löwe komme. Dabei blickte er nicht oder kaum nach rechts oder links, wo Löwen, Gazellen, Warzenschweine und viele weitere Tiere sich zeigten. Der ansonsten umgängliche und freundliche Mann reagierte ärgerlich und abweisend, wenn er aufgefordert wurde, rauszuschauen in die Realität.

Verstehen Sie, verehrte Leserinnen und Leser, worauf ich hinaus will? Was geschieht mit den Menschen, die tagaus tagein, von morgens bis abends und nachts am Computer sitzen, dort kommunizieren, mit richtigen und falschen Bildern sowie Nachrichten überschüttet werden? Halten sie Realität für eine Fälschung und reagieren auf sie aggressiv? Oder geht es ihnen hoffentlich irgendwann so, wie in Andersens Märchen von der Chinesischen Nachtigall dem Kaiser, der eine echte Nachtigall gegen eine künstliche austauscht, dieser mit Begeisterung lauscht und, nachdem sie zerbrochen ist, die echte Nachtigall wieder schätzen kann?

Text: UM

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