Gedanken zur Zeit

12. April 2021

Ein Sammelband aus dem 20. Jahrhundert mit Aufsätzen des Soziologen Helmut Schelsky heißt: „Auf der Suche nach Wirklichkeit“. Dieser Titel hört sich zunächst fremdartig an. Je mehr man sich mit der Wirklichkeits- und Wahrheitssuche befasst, desto mehr versteht man den Titel und nähert sich der berühmten Pilatusfrage an: „Was ist Wahrheit?“

Man versucht, die Wirklichkeit/Wahrheit zu erfassen in Form einer beschreibenden und erklärenden Theorie über die Realität. Dabei stellt man fest, dass man vor dem gleichen Dilemma steht wie jemand, der seinen Körper mit einer zu knappen Decke wärmen will. Zieht er sie bis zum Hals, frieren die Füße im Freien. Zieht er sie über die Füße, bleiben Schultern und halbe Brust entblößt. Ersetzt man die Begriffe Körper mit Wirklichkeit und Decke mit Theorie, dann erlebt man immer wieder das gleiche Dilemma. Man kann die Theorie noch so sehr erweitern (an der Decke ziehen), ein Teil der Wirklichkeit wird nicht abgedeckt. Und dabei lässt sich bestenfalls erahnen, was sich in dem verbleibenden dunklen Teil befindet.

Die Suche nach Wirklichkeit und Wahrheit ist nachweisbar, seit Menschen darüber schreiben, und vermutlich noch viel älter. Die Literatur hierüber füllt ganze Bibliotheken. Goethes Faust will wissen, was die Welt im Innersten zusammenhält. Sein Gehilfe Wagner erachtet den für glücklich, der „noch hoffen kann, aus diesem Meer des Irrtums aufzutauchen“. Mit jeder Beobachtung und Untersuchung erhascht man ein weiteres Stückchen Wirklichkeit, aber nie das Ganze. Kant spricht vom Ding an sich, dessen Wesen wir nicht erkennen können. Schon bei dem Philosophieriesen und Erkenntnissucher Sokrates findet sich die Feststellung: „Ich weiß, dass ich nichts weiß“.

Wenn wir dies alles auf die Coronapandemie übertragen, sieht man die Probleme, Wirrnisse, Widersprüche und Unklarheiten bezüglich Erforschung und Bekämpfung des Virus vielleicht in milderem Licht, worum sich der Unterzeichner bemüht. Dennoch gibt er zu, dass er beim Versuch, einen Impftermin zu erhalten, verstanden hat, was mit kafkaest gemeint ist. In der Welt des Franz Kafka wird der Mensch eingeschränkt, fremdgesteuert, vor Gericht gestellt, ohne zu wissen, warum und von wem.

Im Gegensatz zu dem Opfer anonymer Mächte bei Kafka findet man jedoch plausible Erklärungen für jeden Fall zunächst unerklärlicher Hindernisse und Maßnahmen bezüglich der Coronaerforschung und -bekämpfung. Damit hat der Unterzeichner zwar nicht schneller einen Impftermin erhalten, es erhöht aber seine Beißhemmungen. (Nach einigem Hin und Her hat es doch geklappt – nicht das Beißen, sondern das Impfen.) Allerdings ist dem Unterzeichner sein ohnehin wackeliger Glaube an das genommen worden, was im letzten Jahrhundert der Sozialphilosoph Hans Freyer als eines der Wesensmerkmale und als Motor der industriellen Gesellschaft beschrieben hat: Glaube an die Machbarkeit der Dinge. Ist die Coronapandemie und deren Erforschung sowie Bekämpfung vielleicht postmodern und postindustriell? Zeigt sie uns trotz aller bedeutenden wissenschaftlichen Fähigkeiten und Fortschritte die Begrenztheit unseres Könnens? Kündigt sie das Ende des unbedingten Fortschrittsglaubens, kündigt sie die Unfähigkeit, alle Dinge zu machen, an? Sind diese Fragen fatalistisch oder realistisch?

Text:UM

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