Heimat – ein Begriff im Wandel

4. Januar 2019

Heimat, was ist das eigentlich für mich und wo ist meine Heimat? Ist es Ostpreußen, wo ich vor über 70 Jahren geboren bin? Ist es der Hümmling, ist es Sögel, ist es Harrenstätte, wohin uns die Flucht aus Ostpreußen nach zweieinhalb Jahren rastlosen Herumirrens verschlagen hat? Hier in Harrenstätte setzt meine frühkindliche  Erinnerung ein. Ist  Heimat  die erste feste Wohnung nach der Flucht in einer einfachen Zwei-Zimmer Notunterkunft, wo wir zu Viert, meine Mutter, meine zwei älteren Schwestern und ich fast Vierjähriger zum ersten Mal wieder ohne Angst vor Übergriffen uns abends in die zwei mit Strohsäcken prall gefüllten Betten legen konnten. Welcher Luxus, vor allem für meine Mutter und meine beiden älteren Schwestern nach den fürchterlichen Erlebnissen auf dem Flüchtlingstreck, der schon bald von der Roten Armee überrollt worden war. Heimat, unsere  neue Heimat. Ist es die Wohnung über der Volksschule in Harrenstätte, in die wir, nachdem unser Vater nach fünfjähriger russischer Gefangenschaft zu seiner Familie  heimkehrte, an Leib und Seele tief malträtiert, ziehen konnten?

Ja, hier, über tausend Kilometer von meinem Geburtsort entfernt, erlebte ich bewusst zum ersten Mal Heimat zusammen mit meinen Eltern und Schwestern. Hier gingen wir Kinder zur Schule, hier hatte ich gleichaltrige Freunde, deren Sprache, Plattdeutsch, ich schnell lernte. Hier verdiente unser Vater mit Gelegenheitsarbeiten wieder das erste Geld für unseren Lebensunterhalt. Hier hatten wir auch als Flüchtlinge einen sozialen Status innerhalb der kleinen dörflichen Gemeinschaft. Hier gingen wir in die katholische Kirche, allerdings ohne unseren evangelischen Vater, hier legte ich  meine erste Beichte ab, ging anschließend zur Ersten Heiligen Kommunion,  meine Eltern richteten  mir eine bis heute unvergessliche Erstkommunionsfeier aus.

Meine Eltern trauerten um den Verlust ihrer Heimat, immerhin war Ostpreußen, waren Königsberg und Bartenstein über vierzig Jahre ihr Zuhause und ihre Heimat gewesen. Ich aber, inzwischen  siebenjähriger Erstklässler, kannte ja nur diese Welt und fühlte mich hier zu Hause. Diese Heimat meiner frühen Kindheit ist ganz tief in mir verwurzelt, ist ein Teil von mir und wird es immer bleiben.

Heimat ist für die meisten Menschen der Erfahrungsraum der Vertrautheit, die im Kindesalter durch zahlreiche kleine Erlebnisse und Erfahrungen entsteht, die Geborgenheit und Orientierung  vermittelt. Heimat ist besonders im Kindesalter  als emotionale Ortsgebundenheit zu verstehen. „Psychologisch wird Heimat gesehen als Erinnerung an das kindliche Gefühl, eins mit der Welt zu sein.“ – sei sie, wie in meinem Fall, auch noch so klein, bescheiden und ärmlich.

Aber nicht jeder Mensch hat solch eine heile Welt, solch ein „Kinderparadies“ erfahren. Oft überwiegen schlechte Erfahrungen, die das kindliche Zuhause nicht als Heimat erleben lassen. Mancher hat erst als Erwachsener eine Region zu seiner Heimat gemacht, mancher hat nie in seinem Leben bewusst eine Region als Heimat erlebt. „Heimat“ ist kein leicht zu definierender Begriff, Heimat ist mehrdimensional. Es gibt nicht eine Heimat, sondern viele „Heimaten“. Heimat ist nicht statisch, sondern verändert sich vielfach im Lauf des Lebens. Jeder Mensch nimmt sie verschieden wahr, wie Professor Dr. Thomas Steensen in seinem Aufsatz „Heimat“ schreibt.

Zeitgenössische Heimatforscher gehen davon aus, dass der Mensch sich ein neues Lebensumfeld schaffen kann: „Unter heutigen Bedingungen kann Heimat auch nicht mehr statisch an den Ort der Geburt gebunden sein. Heimat kann auch neu gewonnen (…) werden“ (Piepmeier 1990: 106).

Ein Blick zurück in die deutsche Geschichte zeigt, wie wandelbar der Begriff Heimat sein kann.

Zur Zeit der Nationalsozialistischen Terrorherrschaft wurde der Begriff  missbraucht, da „Heimat gleichgesetzt wurde mit der Nation und so  der Abgrenzung gegen alles Fremde und Unbekannte diente.  Die Heimat müsse unverfälscht bewahrt, von fremden Einflüssen verschont bleiben. Dass der Missbrauch dieses ideologisch verfälschten Heimatbegriffs  im und nach dem Zweiten Weltkrieg Millionen von Menschen den Verlust ihrer Heimat brachte, ist besonders beklagenswert und makaber zugleich. Danach war der Begriff „Heimat“ lange verpönt. Besonders die jungen Heranwachsenden in der jungen  Bundesrepublik Deutschland standen dem Begriff „Heimat“ skeptisch gegenüber, obwohl sie durchaus Heimat in ihrer unverfälschten Bedeutung erleben durften.

In den 1980 ziger Jahren verband die junge  Generation den Begriff Heimat wieder mit positiven Gedanken und Inhalten. Begriffe wie Familie, Freunde, Geborgenheit, sich zu Hause fühlen, sich auskennen, Vereinzugehörigkeit, Hotel Mama …wurden bei einer Befragung ganz häufig genannt.

Dieses sich neu entwickelnde Heimatgefühl ist sicherlich auch eine Folge der Globalisierung, die mit dem Gefühl von Verlust einhergeht. Verändern sich die Lebensumstände zu schnell, verlieren viele Menschen ihren Halt, werden entwurzelt, sie haben Angst vor Veränderungen und Verlust ihrer gewohnten und vertrauten Umgebung, die sie bisher als Heimat wahrgenommen haben.

So ist es nicht verwunderlich, dass Heimat zum Gegenpol der Globalisierung wird. Besonders die Menschern der wohlhabenden Industriestaaten haben das Gefühl, dass die Globalisierung der Welt für sie nicht von Vorteil ist, sie haben Angst, dass ihr Wohlstand neu verteilt werden könnte. Sie sehnen sich zurück in eine Zeit, als es für fast alle nur aufwärts ging. Und diese Zeit ist für sie Heimat, ein Phänomen, dass Heimat auch Zeit sein kann. Sie sehnen sich zurück in die unbeschwerten Jahre ihrer Kindheit, in denen Geborgenheit und Sicherheit ihre ständigen Begleiter waren.

Heimat ist aber kein statischer Zustand, Heimat ist der Wandlung unterworfen, auch wenn manche das nicht wahr haben wollen. Normen und Werte unserer Kindheit gelten so nicht mehr. Was vor kurzem noch umstritten war, ist heute selbstverständlich. Männer und Frauen sind vor dem Gesetz gleichgestellt, gleichgeschlechtliche Beziehungen werden akzeptiert, die Kirche hat an Macht und Einfluss verloren. Die Gesellschaft hat sich in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg fundamental verändert, und das auch schon in der Zeit, bevor die aktuelle Flüchtlingswelle unser Land traf. Geht aber dieser Prozess der Veränderung zu schnell vonstatten, verlieren viele Menschen den Halt, der bislang ihr Leben bestimmte, sie werden entwurzelt. Sie sehnen sich nach einem Leben in ihrer „alten Heimat“, werden aber enttäuscht, weil sie diese nicht mehr vorfinden, sie ist ihnen fremd geworden. Heimat ist also einem ständigen Veränderungsprozess unterworfen trotz aller Beschwörung der Tradition.

Große Teile der Bevölkerung sind in diesem Gefühl der Zerrissenheit gefangen, sie leiden unter der Auflösung früherer sozialer, kultureller und geschlechtlicher Grenzen, obwohl für den einzelnen durchaus annehmliche Freiheiten gewonnen wurden. Die Vielschichtigkeit und Komplexität der heutigen Gesellschaft werden von vielen als Zerstörung einer imaginären Einheit empfunden, einer angeblich vorhandenen Einheit, die als Heimat empfunden wird.

So kann auch der momentane Erfolg der Rechtspopulisten erklärt werden.

„Wir werden uns unser Land und unser Volk zurückholen.“  Sie zeichnen ein Bild von Heimat, das es nie gegeben hat. Sie werden mit ihren Parolen und vorgeschlagenen Maßnahmen die von ihnen gesteckten Ziele nicht erreichen, denn die  Mauern, Zäune und Ausschlüsse halten die Entwicklung genau so wenig auf wie das Zerschlagen der Webstühle zur Zeit der beginnenden Industrialisierung. Walter Leimgruber, Kulturwissenschaftler an der Universität Basel, beschreibt Heimat nicht als vergangene Idylle, sondern  als Utopie, die Utopie einer Zukunft für alle.

So vielfältig auch die Antworten auf die Frage nach der Definition von Heimat sein mögen, ich kann mich mit der Aussage von Walter Leimgruber identifizieren:Wenn Heimat nur als Ort der Geburt oder als Vergangenes empfunden wird, kann sie diskriminierendes Potential freisetzen und zu Ausschließung führen. Genau wie die Heimat muss auch unsere Definition von ihr sich wandeln.“

Wem das zu weit geht, dem biete ich zwei alternative Definitionen von Heimat an:

In England heißt es: „Home is where the heart is” – oder wie der deutsche Sänger Herbert Grönemeyer es ausdrückt: „Heimat ist kein Ort, Heimat ist ein Gefühl!“

„Die Liebe zur Heimat ist die Erinnerung an etwas, das es so nicht mehr gibt.“ (Stefan Rogal)

Text: Heribert Tolkmitt, Sögel

 

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