Verspätete Aufarbeitung der deutschen Schuld des Dritten Reichs

27. April 2016

Nachdem mehrere Artikel über das Dritte Reich in den IfS veröffentlicht wurden, soll sich ein  (vorläufig letzter) Aufsatz mit einigen Aspekten der verspäteten Aufarbeitung der Schuld im und des Dritten Reichs befassen. Dazu sind zunächst einige Erläuterungen des Begriffs “Verdrängung” nötig. Der Autor ist sich dessen bewußt, dass er mit diesem Essay nur einige wenige Facetten des Titelthemas anreißt.

Kollektive Verdrängung – Verdrängung ist ein psychischer Abwehrmechanismus, um das seelische Gleichgewicht zu erhalten. Er kann durchaus der Psychohygiene (kurzfristig) dienen. Langfristig besteht die Gefahr, dass sie aus dem Unbewußten heraus das seel. Gleichgewicht ins Wanken bringt, indem sie unser Handeln, Denken und Fühlen beeinflußt, z. B. in Form von Vorurteilsbildung oder -verstärkung, Ängsten, aber auch Aggressionen, Depressionen, In- oder auch Hyperaktivität, Realitätsverleugnung, Flucht in Scheinwelten, Schuldnegierung oder Projektion auf andere u. a. m. – Letzendlich bedeutet Verdrändung ein Vergessen ohne zu Verzeihen. Dabei kann das fehlende Verzeihen in Form eines weiteren Abwehrmechanismus auf andere übertragen werden. Ihnen wird Schuld zugeschoben, da man mit dem Bewußtsein eigener Schuld nur schwer leben kann.

Somit ergibt sich bereits eine Erklärung für die verspätete Aufarbeitung deutscher Verbrechen während des 2. Weltkriegs und insbes. an Juden. Während des Krieges sahen viele Deutsche mehr oder weniger bewußt weg bei dem Thema, dass Juden ermordet wurden oder ihnen zumindest etwas Unrechtes geschah. Einmal war man selbst mit der Bewältigung der Kriegslasten, die die Nazipropaganda gern den Juden zugeschoben hatte, befaßt und sozus. seelisch ausgebucht, zum anderen konnte man sich einreden, man sei ja persönlich unschuldig. Einige meinten, die Deutschen hätten durch Kriegszerstörung und menschliches Leid genug gebüßt, seien nun entschuldigt/entschuldet oder – einfacher ausgedrückt –  man sei mit den Gegnern und Opfern quitt. Es sei an der Zeit, daß die anderen ihr Unrecht einsähen, das sie den Deutschen zugefügt hätten.  Zudem war ein teils offener, teils latenter Antisemitismus wenn nicht allgegenwärtig, so doch weit verbreitet. – (Witz oder besser entlarvender Aphorismus: Hitler hat jetzt angefangen, die Juden und die Radfahrer zu vergasen. Frage: Ja, warum denn die Radfahrer? Gegenfrage: Ja, warum denn die Juden? – Wer hat sich die erste Frage nicht gestellt?) Einen ziemlich offenen Antisemitismus fand man in Deutschland noch bis in die 1960er Jahre. – Viele Deutsche sahen in den Judenmorden  “nur” Ausrutscher des an sich guten Systems “Drittes Reich”. Insbes. meinte man, Hitler, der den Deutschen nach dem 1. Weltkrieg das Selbstwertgefühl zurück gegeben habe, habe diese Verbrechen nicht gewollt. (Noch bis in die 1950er Jahre hörte man den „Seufzer“: “Wenn das der Führer wüßte.”) Mit der im wahrsten Sinne des Wortes Entschuldigung der Identifikationsfigur Adolf Hitler konnte man sich selbst auch aus der Schuld stehlen.

In der Nachkriegszeit mußte Deutschland wieder aufgebaut werden. Dies nahm sehr viele Energien in Anspruch. Die Alliierten, denen man ursprünglich als Feinden ohnehin nicht viel von den von ihnen dargestellten deutschen Verbrechen geglaubt hatte, wurden mit Beginn des Kalten Krieges zu Freunden. Sie redeten auf einmal nicht mehr viel von deutschen Verbrechen, da die Deutschen zu Verbündeten wurden, die man nicht zu sehr demütigen wollte. Außerdem hatte man nun einen gemeinsamen Feind: die Sowjetunion und den Kommunismus.

Nach den ersten Prozessen gegen KZ-Verbrecher konnten viele Deutsche auch einfach nicht glauben, dass die Deutschen Verbrechen in einem solchen Ausmaß begangen haben könnten, ja dass es Verbrechen in einem solchen Ausmaß überhaupt geben könnte. Man hörte auch häufig die Verharmlosung der KZs sowie der Verbrechen an Juden und Andersdenkenden, in den KZs  hätten sich auch viele Verbrecher befunden. Von Menschen, die man als unangenehm empfand, sagte man bis in die 60er Jahre durchaus: „Den haben sie im KZ vergessen.“ D. H., über Verharmlosung  hinaus gab es sogar eine zumindest gewisse Akzeptanz von KZ und Verbrechen. Bei Straßenkriminalität hörte man immer wieder: „Das hätte es unter dem Führer nicht gegeben.“ Mit Hinweis auf tatsächlich oder meist nur scheinbar Positives im 3. Reich, z. B. Hitler habe die Autobahnen gebaut, die Arbeitslosigkeit beendet u. a. m. (obwohl ihm de facto beides zumindest teilweise in den Schoß gefallen ist), mit solchen Hinweisen verharmloste man die Nazidiktatur und damit die eigene Rolle in ihr.

Ein weiterer Grund für die verpätete Aufarbeitung der Verbrechen lag darin, dass man bis weit in die 60er Jahre sehr obrigkeits- und autoritätshörig war. Man vertraute Eltern, Lehrern, Beamten und dem Staat. Jugendliche, die normalerweise Skepsis entwickeln, konnten oder wollten sich nicht vorstellen, dass ihre geliebten und geachteten Eltern und Großeltern in solche Verbrechen verwickelt waren, und fragten wenig danach bzw. gaben sich mit beschwichtigenden Erklärungen zufrieden. Die allgemeine Skepsis als Grundhaltung kam erst mit den 68ern auf (trotz Schelskys Feststellungen in seinem Buch “Die skeptische Generation” über die Jugend der 50er Jahre).

Zum Schluss sei nur kurz auf die Bedeutung der sogen. Entnazifizierung seitens der westlichen Alliierten hingewiesen. Viele, die positiv eingeschätzt, also “rein gewaschen” wurden, einen “Persilschein” erhielten,  machten sich über ihre Rolle im Dritten Reich keine Gedanken mehr. Etliche Menschen, die negativ beurteilt und mit Sanktionen belegt worden waren, definierten dies  als Sieger(unrechts)justiz und wurden darin oft in ihrer Umwelt bestätigt.  – Die Entnazifizierung genauer zu untersuchen, wäre Thema für weitere Essays.

Text/Bild: UM

    

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