„Hunger, Schlagen, Brüllen, Schreien, Tote und …..“

1. Januar 2013

KZ-Überlebende Erna de Vries erzählt Schüler/Innen der Schule am Schloss  von ihren Erlebnissen als Erinnerungsarbeit für das Bewusstsein für das Vergangene

„Du wirst überleben, und dann wirst du erzählen, was mit uns geschehen ist“, so lautete der Auftrag, den Erna de Vries bei der Trennung von ihrer Mutter im Konzentrationslager Ausschwitz-Birkenau erhalten hatte. Selbst im Alter von 89 Jahren folgt sie dieser Aufforderung schon seit über 20 Jahren und war daher auf Einladung der Religionslehrerin Angela Eilermann kürzlich wieder in Sögel. Diesen Besuch sieht die Schule als wichtigen Beitrag, um die Schülern der 8.,  9. und 10. Klassen für das Thema Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus zu sensibilisieren und um sie zu warnen, dass in Zukunft nicht wieder ähnliche Gräuel geschehen. Fächerübergreifend hatten sich die Schüler/Innen im Geschichts-, und Religionsunterricht intensiv mit dem Thema „Nationalsozialismus“ auseinandergesetzt und lauschten nun aufmerksam und tief bewegt den Worten der Zeitzeugin Erna de Vries.

Erna de Vries, die 1923 in Kaiserslautern geboren wurde und heute in Lathen als Ehrenbürgerin wohnt, begann ihre Schilderung damit, dass ihr Vater Protestant war und ihre Mutter Jüdin. Kurz nach Hitlers Machtergreifung begannen die Anfeindungen gegen jüdische Bürger, und es kamen immer wieder neue Gesetze, die ihnen das Leben zur Hölle machten. Als Schulkind wurde sie bald in einer jüdischen Sonderklasse untergebracht, wo sie sich seltsamerweise auch aufgehoben fühlte. Denn dort bekam sie u. a. auch  Hintergrundwissen über den jüdischen Glauben und über jüdische Gebräuche, bis schließlich nach der Reichspogromnacht jüdischen Kindern überhaupt kein Schulbesuch mehr erlaubt war. Sie übernahm eine Tätigkeit in der Krankenpflege, um ihre Mutter, die inzwischen Witwe war und eine kleine Logistikfirma führte, finanziell zu unterstützen. Ihr Wunsch, einmal Ärztin zu werden, wurde ihr jedoch verwehrt. Dann wurde die Wohnung der Familie Korn verwüstet und im Juli 1943 wurde sie gemeinsam mit ihrer Mutter in das Konzentrationslager Ausschwitz-Birkenau deportiert. Obwohl für Erna kein Aufruf erfolgt war und sie wusste, was der Transport nach Ausschwitz-Birkenau für sie und ihre Mutter bedeutete, ging sie auf eigenen Wunsch mit, da sie bei ihrer Mutter bleiben wollte. Auch bei Erna Korn  wurde nach ihrer Ankunft in Ausschwitz eine Nummer an ihrem linken Arm eintätowiert und sie musste unter schrecklichen, menschenunwürdigen Bedingungen namenlos – als eine einfache Nummer bezeichnet – dort arbeiten und leben.

In der Folgezeit gelang es ihr noch, sich von ihrer Mutter zu verabschieden, die am 8. November 1943 im KZ umgekommen ist. Dabei erhielt Erna den obigen Auftrag.

Eine erdrückende Stille herrschte in der Aula des Hümmling-Gymnasiums, und die Schüler lauschten mit betroffenen Gesichtern den weiteren Schilderungen von Erna de Vries, als diese detailliert und eindringlich von dem Tag erzählte, als sie mit vielen anderen Frauen, die arbeitsunfähig geworden waren, in den Todesblock 25 getrieben wurde. Am anderen Tag sollten sie vergast werden. Die damals 19jährige Erna de Vries hatte noch einen Wunsch, bevor sie sterben sollte. „Ich möchte noch einmal die Sonne sehen“, hatte sie gebetet. Und als sie die ersten Sonnenstrahlen erblickte, wurde ihre Nummer aufgerufen. Ein NS- Mann sagte zu ihr: „Du hast aber Glück. Du darfst leben“, und so kam sie als so genannter „jüdischer Mischling“ ins KZ  nach Ravensbrück und wurde zur Zwangsarbeit verurteilt.

Im April 1945 wurde das Konzentrationslager Ravensbrück geräumt und alle Insassen in Richtung Nordwesten in den Todesmarsch getrieben, der Erna de Vries und die Mithäftlinge durch das heutige Mecklenburg – Vorpommern führte. Als sie völlig erschöpft und am Ende ihrer Kräfte nicht mehr weitergehen konnte und wollte, wurde ihr Treck von alliierten Soldaten befreit. So hatte Erna de Vries die Gräuel von Ausschwitz und Ravensbrück überlebt und war endlich frei! Doch viele Tausende weibliche oder männliche Mitinsassen fanden leider den bitteren Tod.

Mit drei Freundinnen hielt Erna sich durch Betteln über Wasser und lebte nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in Köln, wo sie Josef de Vries kennenlernte und 1947 heiratete. Mit ihm hat sie drei Kinder. Ihr Mann war Jude und auch jahrelang in einem Konzentrationslager gewesen. Mit ihm ging sie in seinen Heimatort Lathen, wo sie heute als Ehrenbürgerin lebt.

Die Schüler waren so sehr bewegt, dass sie einige Zeit benötigten, um das Gehörte zu verarbeiten. Erst dann waren sie in der Lage, offene Fragen an Frau de Vries zu richten. (…..)

„Haben sie noch heute Hass auf die Deutschen?“ Erna de Vries antwortete geduldig: „Ich habe nie Hass empfunden, was mir dabei geholfen hat, das alles zu verarbeiten. Ich habe auch in der schrecklichen Zeit viele gute Menschen an meiner Seite gehabt, die mir geholfen haben, darunter war auch eine gute Nachbarin, die mit Lebensmitteln ausgeholfen und sich dadurch selbst in Gefahr gebracht hat. Ich erlebte immer wieder kleine Gesten des gegenseitigen Helfens und Mutmachens. Weil es diese guten Menschen gegeben hat, kann ich heute noch die Sonne sehen“.

Eine weitere Frage lautete: „Was haben Sie empfunden, als sie gehört haben, dass Ihre Mutter tot ist?“ „Ich habe nur gedacht, jetzt kann ihr niemand mehr was tun“, antwortete Erna de Vries. Ein anderer Schüler fragte: „Was empfinden Sie, wenn Sie heute das Wort Konzentrationslager hören?“ „Mit Konzentrationslager verbinde ich Hunger, Kälte, schwere Arbeit, mangelnde Hygieneverhältnisse, Ungeziefer, Tote, Schreien, Brüllen und Schlagen“, war die Antwort. Weiter wurde gefragt:

„Haben Sie heute noch Albträume wegen der schrecklichen Erlebnisse?“ „Ich behalte keine Träume, aber ich werde jeden Tag durch irgendeinen Anstoß an die schrecklichen Erlebnisse erinnert, allein schon durch die eintätowierte Nummer auf meinem linken Arm“, erklärte Erna de Vries. „Haben Sie darunter gelitten, nicht Ärztin geworden zu sein?“ fragte eine Schülerin. „Ja, anfangs schon, doch heute bin ich stolz, dass einige meiner Kinder und Enkelkinder die Chance hatten, einen medizinischen Beruf zu erlernen“, gab Erna de Vries freudig als Antwort.

Nach der Fragerunde bedankte sich Schulleiterin Maria Lau bei Erna de Vries für den sehr informativen und bewegenden Vortrag und dafür, dass sie sich so geduldig den vielen Fragen der Schülerinnen und Schüler gestellt hatte. „Dadurch haben unsere Schüler noch tiefere Einblicke in Ihr grauenvolles Schicksal bekommen. Gerade in der heutigen Zeit ist es sehr wichtig, jungen Menschen Geschichte begreiflich zu machen, wobei persönliche Schilderungen intensiver wirken. Mit Ihrem Vortrag haben Sie wieder ein Stück Erinnerungsarbeit für das Bewusstsein für das Vergangene geleistet“, fügte Frau Lau hinzu und Lau überreichte ihr noch eine „Geldspende“ für ein Baum-Aufforstungsprojekt in Israel.

Text und Foto: Gisela Arling

Das Foto zeigt von links: Religionslehrerin Frau Angela Eilermann, Frau Erna de Vries und Schulleiterin Frau Maria Lau

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