Der Weidezaun

1. Februar 2011

Gerade als Anton sich die Jacke anzog, fing es an zu regnen. Es war Melkzeit und er wollte von der ungefähr einhundert Meter entfernt liegenden Weide seine Kühe in den Stall holen. Es war erst gegen halb vier Uhr nachmittags, als eine Wolkenwand den Himmel verdunkelte. Vorsichtshalber schnappte Anton sich den Friesennerz und zog ihn über. Zum Glück, denn nach wenigen Metern sah er fast keinen Weg mehr. Es schüttete wie aus Eimern. Doch was half es. Tiere sind nun mal keine Maschinen, die man eventuell draußen stehen lassen könnte. Also Augen zu und durch …

Als er an der Weide ankam, warteten die Kühe schon am Gatter. Den Heimweg fanden sie allein. Im Stall angekommen, sahen alle aus wie frisch gebadet, einschließlich Anton. Ihm war das Wasser, trotz Ölzeug, bis auf die Haut gelaufen und in den Stiefeln konnte er Wassermassage betreiben! Nachdem die Tiere gemolken und mit etwas Kraftfutter versorgt waren, beschloss er, bei diesem Sauwetter sein Vieh über Nacht im Stall zu lassen. Das hatte zudem den Vorteil, dass er sie am Morgen zum Melken nicht wieder von der Weide holen musste.

Am nächsten Morgen strahlte die Sonne als sei tags zuvor nichts gewesen. Immerhin schrieb man August. Nach der Versorgung seiner Stallinsassen trieb er sie zurück auf die Weide. Doch Moment mal! Was war denn das? Tiefe Reifenspuren verrieten, dass in der Nacht hier jemand mit dem Auto unterwegs gewesen sein musste. Und dieser Jemand war offensichtlich vom Weg abgekommen und hatte den Weidezaun auf einer Länge von zehn Metern niedergewalzt. „So ein Bazi“, schimpfte er, „der hätte wenigstens eine Nachricht hinterlassen können. Nun ja“, sinnierte er weiter, „womöglich wäre der Zettel vom Regen aufgeweicht und unleserlich geworden.“

Provisorisch stellte er die Pfähle wieder auf; er würde mit dem Traktor, ein paar neuen Pfosten und einigen Metern Draht noch einmal wiederkommen müssen. Zu Maria meinte er, dass er das erledigen würde, nachdem er die Milch zum Abholpunkt gebracht hätte. Es könne also ein bisschen dauern.

Der darauf folgende Tag war Sonntag. Zuerst kam das Vieh dran, dann frühstückten sie genüsslich und machten sich fertig für den Kirchgang. Auf halbem Weg trafen sie ihren Nachbarn Mooser. Nach einem Grüß Gott erzählte er ihnen folgende Geschichte: „Ihr wisst doch, dass ich nicht weit vom Hof ein Stück Wald habe.“

„Ja und?“, fragte Anton.

Stellt Euch vor, ich hatte ein paar Meter Holz für den Winter vorbereitet und als ich es gestern Nachmittag abholen wollte, war, bis auf drei kurze Stämme, alles verschwunden. Ich habe schon herum gefragt, aber keiner hat etwas gesehen oder ist es gar gewesen.“

Darauf hin erzählte Anton dem Nachbarn die Story von dem umgenieteten Weidezaun und beide überlegten, ob das wohl derselbe Spezi gewesen sein konnte.

Eine Woche verging; es wurde Samstag und der Stammtisch stand an. Sie trafen sich alle drei Wochen im Dorfkrug zum Doppelkopf spielen. Dabei wurde so manches Maß geleert. Anton hatte diesmal viel Zeit. Maria hielt sich bei Verwandten auf und konnte somit nicht meckern, wenn es etwas später wurde und, was sie besonders hasste, er nicht ganz standfest auf den Beinen, heimkam. Der Wirt hatte in der vergangenen Woche Geburtstag und ließ sich an diesem Abend seinen Stammgästen gegenüber nicht lumpen. Es kam was kommen musste: es wurde sehr spät und Anton, wie auch die Anderen, waren absolut nicht mehr sicher auf den Beinen. Ungefähr zwei Uhr in der Früh verabschiedeten sie sich vor der Tür und jeder machte sich auf den Weg. Anton kam auf dem Heimweg an der Kirche vorbei und konnte nicht widerstehen. Die Tür war offen; im wahrsten Sinne des Wortes Gott sei Dank, und er betrat das Gotteshaus. Er setzte sich in eine Bank, wollte nur ein wenig ausruhen. Dann schlief er ein. Ein Geräusch an der Eingangstür weckte ihn und Anton bekam einen ziemlichen Schrecken. Es war bereits sieben Uhr und die ersten Gläubigen betraten die Kirche. Das fehlte ihm noch, dass ihn hier jemand sah. Ohne weiter nachzudenken, erkor er sich den Beichtstuhl als Versteck, zog die Vorhänge zu und hoffte, dass die Leute nach Verrichtung ihres Gebets wieder verschwanden. Danach wollte auch

er sich unbemerkt davon machen. Doch was war das? Ausgerechnet jetzt kam jemand, um die Beichte abzulegen. Nun war guter Rat teuer; einen Ausweg gab es nicht. Also hielt Anton sich ein Taschentuch vor den Mund und verstellte seine Stimme. Nach zehn Minuten war der Vorgang beendet und er dachte: Hoffentlich hat der mich nicht erkannt, doch in seinem Gesicht stand ein viel sagendes Lächeln. Vorsichtig sah Anton sich um. Die Kirche hatte sich inzwischen wieder geleert; schnell verließ auch er das Gotteshaus. Sein Vieh daheim würde sicher Theater machen und er überlegte, dass es heute wohl ein Segen sein würde, dass nur das Vieh Theater machte…

Im Laufe der neuen Woche kontrollierte Anton seinen Weidezaun. Das nahm eine Weile in Anspruch und mit jedem Meter, den er abschritt, feixte er in sich hinein. Gelungen, schmunzelte er. Auch am kommenden Sonntag trafen Maria und Anton wieder ihren Nachbarn. Der Mooser nahm den Anton zur Seite und berichtete ihm eine absonderliche Geschichte. „Du erinnerst dich an meine geklauten Baumstämme?! Da komme ich nun am vergangenen Mittwoch an meinen Wald, um ein paar Bäume als Ersatz für das gestohlene Holz zu schlagen …“

„Ja und, das ist doch nichts Ungewöhnliches?“

„Nein, das nicht — doch das Holz war wieder da! Und nicht nur wieder da, sondern auch noch sauber gehackt und gestapelt. Ich brauchte nur noch aufzuladen und es heimzubringen!“

„Na, so was!“, antwortete Anton und grinste innerlich.

Die Wochen vergingen und es war wieder einmal der Stammtisch-Samstag. Sie hatten ihre ersten Runden Doppelkopf gespielt als Anton am Nebentisch eine Geschichte mitbekam: „Stellt Euch vor“, begann ein Gast, „da gehe ich vor drei Wochen morgens in die Kirche zum Beichten und der Pfarrer sitzt schon im Beichtstuhl. Das ist nicht weiter ungewöhnlich, doch der sprach so komisch, gar nicht nach unserem Pfarrer. Und die Buße, die er mir aufgab, war genauso seltsam. Kein Gebet, wie üblich.“

„Was hat er denn verlangt“, fragten die Zuhörer.

Der Sprecher lehnte sich über den Tisch und sagte leise, was der Pfarrer ihm auferlegt habe.

Die Doppelkopfrunde war inzwischen neugierig geworden, was denn da am Nebentisch so Interessantes zu hören sei. Anton besonders, er vergaß sogar, die Karten für das nächste Spiel auszugeben. Als sie ihn fragten, warum ihn das so interessieren würde, feixte er und gab seine Geschichte zum Besten.

Erinnert Ihr Euch noch an unseren letzten Doppelkopfabend? Der Wirt hatte uns, anlässlich seines Geburtstages, nicht gerade auf dem Trockenen sitzen lassen. An diesem Abend, oder besser in der Nacht, hatte ich, als ich an der Kirche vorbei kam, das Bedürfnis etwas auszuruhen, ein Gebet zu sprechen, und bin hinein gegangen. Dabei muss ich auf der Bank eingeschlafen sein. Als ein Besucher die Kirche betrat, wachte ich vom Quietschen der Kirchentür auf Da mich niemand sehen sollte, blieb mir als einziges Versteck der Beichtstuhl. Ausgerechnet dahin trieb es den morgendlichen Kirchgänger. Der wiederum glaubte, dass der Pfarrer schon dort sitzen würde und erzählte ihm seine Missetaten von dem demolierten Weidezaun und dem entwendeten Holz am Waldrand. Ich durfte mich nun nicht zu erkennen geben, habe deshalb meine Stimme verstellt und ihm als Buße die Überprüfung des gesamten Weidezaunes nebst Reparatur, sowie den Rücktransport des Holzes — und zwar im gehackten Zustand — auferlegt.

Alle Mitspieler hatten mit großen Augen und offenem Mund zugehört. Wie auf ein geheimes Kommando wandten sich die Blicke zum Nachbartisch … und dann brach es aus ihnen heraus. Sie lachten bis sie keine Luft mehr bekamen über den Übeltäter, aber auch über Antons Reaktion. Selbst als die Anwesenden zu ihnen herüber sahen, waren sie nicht in der Lage, ein Wort zu sagen.

Natürlich machte diese Geschichte im Dorf die Runde! Auch der Pfarrer erfuhr davon und wurde an einem der nächsten Tage auf dem Hof bei Maria und Anton vorstellig.

Au weh, dachte Anton, jetzt wird’s ungemütlich. Schnell ging er ins Haus, ließ seine Frau einen guten Kaffee kochen und stellte seinen besten Cognac dazu.

Als der Pfarrer das Haus betrat und den gedeckten Tisch sah, musste er über sein Schäfchen im Stillen doch ein wenig grinsen. Laut sagte er: „Was hast du dir eigentlich dabei gedacht, einfach in den Beichtstuhl zu gehen und unberechtigterweise einem armen Sünder die Beichte abzunehmen? Ich hoffe, das war das einzige Mal! Mit drei Ave Maria will ich dir aber vergeben“, lächelte der Pfarrer und sprach, zu Maria gewandt, „es war eine gerechte Strafe. Ich hätte es nicht besser machen können. Derjenige tut das bestimmt nicht wieder; denn mit der Tatsache zu leben, dass das ganze Dorf Bescheid weiß, ist schlimmer, als wenn er eine Anzeige bekommen hätte, die später wegen Geringfügigkeit vermutlich eingestellt worden wäre.“ Mit diesen Worten trank der Pfarrer seinen Kaffee und einen gut bemessenen Cognac, wobei er geflissentlich Marias fragende Blicke übersah. Strafe muss sein, grinste der Pfarrer im Stillen, soll Anton doch mal zusehen, wie er seiner Maria die seltsamen Geschehnisse in der Kirche erklärt…!

Textbeitrag :Jochen Krohn Leverkusen rjkrohn@t-online.de

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