Neuengland

21. Januar 2018

In den Neuenglandstaaten im Nordosten der USA  spürt man nicht überall dezente englische Zurückhaltung. Im kleinsten Bundesstaat der USA, in Rhode Island, versammelt sich eine Vielzahl protziger Villen und Paläste, mit denen um 1900 und davor die Reichen und Superreichen einander zu übertreffen suchten. Das Anwesen der Familie Bush in Kennebunkport (Maine) lässt sich auch nicht gerade als einfach bezeichnen.

Boston, das Tor zu Neuengland, legt Wert auf Vornehmheit und alteingesessene Familien. Die weltweit renommiertesten Prunkstücke der Region liegen am Rande außerhalb Bostons in Cambridge: die Universitäten MIT (Massachusets Institute of Technology) und Harvard. Letztere gehört zu den acht Ivy (Efeu)  Universitäten. Alle spielen weltweit in der oberen Wissenschaftsliga. An vielen ihrer Gebäude wächst Efeu, was den Universitäten eine englische Anmutung verleiht. Allerdings ist auch eine Eliteuni wie Harvard nicht vor unbedeutenden Irrtümern gefeit. Eine sitzende Statue von Harvard enthält drei Fehler: Er war nicht der Gründer, sondern der Geldgeber. Das Gründungsjahr ist falsch.

Es handelt sich überhaupt nicht um Harvard. Das sind aber Kleinigkeiten, die man in englischem Traditionalismus nicht korrigiert. Ein weiteres sehr britisches Kuriosum beinhaltet die Ordnung der Bücherei. Dort darf nur arbeiten, wer schwimmen kann, da der Sohn der Stifterin mit der Titanic unterging, weil er nicht schwimmen konnte. –  In Boston wurde ein Signal gegen das englische Mutterland und für die Befreiung der dreizehn nordamerikanischen Kolonien gesetzt. Im Dezember 1773 drangen verkleidete Männer im Hafen in englische Schiffe ein und warfen Kisten mit Tee ins Wasser als Protest gegen englische Steuer- und Zollpolitik (Boston Tea Party). Der Stolz hierauf hält sich offenkundig in Grenzen.

Der Unterzeichner bestellte in einem Restaurant am Hafen, das in Ausstattung und Bekleidung der Bedienung auf 1773 verwies, Tee und erhielt – schrecklich zu sagen – urenglischen Lipton’s Tee. Ein weiterer Ort von eigenwilliger Traditionspflege dümpelt im Hafen: ein Nachbau der Mayflower, von der keiner weiß, wie sie aussah. Auf ihr segelten die Pilgerväter (Pilgrim Fathers) 1620  von Plymouth in England statt nach Virginia versehentlich nach Neuengland und gründeten dort den Ort Plymouth am Cape Cod (Kabeljau). Er ist heute ein liebevoll gepflegtes Museumsdorf. Bostoner Familien, die auf sich halten, führen ihr Ahnenreihe bis zu den Pilgervätern zurück. – Die jüngere Geschichte wird durch die John F. Kennedy Bücherei mit Museum vertreten. Dort wurde ein Teil des Inneren vom Weißen Haus nachgebildet.

Neuengland ist mehr als Boston. Die malerischen überdachten Holzbrücken werden heute noch genutzt. Man findet überall anheimelnde Holzhäuser. Sie kommen jedem, der sich an die Fernsehserie „Mord ist ihr Hobby“ erinnert, bekannt vor. Die Küstenlandschaft kann mit den Dünen Sylts ebenso konkurrieren wie mit den schwedischen Schären. Das dünn besiedelte Landesinnere ist dicht und urwüchsig bewaldet. Im Herbst explodieren die Farben. Die Wälder wechseln von Grün in Gelb und leuchtendes Rot. Ein bunter Rausch.

Im Herbst stolpert man in und vor fast jedem Haus, Geschäft und Hotel über Kürbisse sowie Kürbisprodukte.  Dieser Kürbiskult erreicht seinen Höhepunkt zu Halloween. Ein weiteres Produkt, das man sich in Neuengland sozusagen auf die Fahnen schreibt (besser: klebt), ist der Ahornsirup, der bei keinem Frühstück fehlen darf. Ein Maple Syrup (Ahornsirup) Museum in Pittsford/Vermont bringt seinen Besuchern in liebenswert kitschiger Weise den Sirup, seine Geschichte und Herstellung nahe.

New Hampshire verfügt nicht nur über den trotzigen Wahlspruch „Live free or die“ (Leb frei oder stirb) auf allen Autokennzeichen, es  bietet auch weltgeschichtlich Bedeutsames mit Bretton Woods.

Der winzige Ort mitten im dichten Wald war 1944 Schauplatz einer internationalen Wirtschafts- und Währungskonferenz, während der die Weltbank und der Internationale Währungsfond geschaffen wurden. Der Tagungsort, ein riesiges hölzernes Hotel, existiert heute noch. Der erstaunlich kleine Konferenzraum blieb original erhalten.

Setzt man von Vermont über den Lake Champlain in den Bundesstaat New York nach Lake Placid über, früherer Austragungsort einer Winterolympiade, bleibt man weiterhin in dichten Wäldern und unberührter Natur. Sie lässt einen nicht glauben, dass an der Südostspitze des verschlafenen Staates eine der quirligsten Metropolen der Erde liegt: die Stadt New York.

Die Stadt ist abstoßend hässlich und schön zugleich, arm und reich, chaotisch und wohl organisiert, primitiv und intellektuell, Steinwüste und grüne Oase, fast food Einheitsbrei und kulturell vielfältig, amerikanisch und international, salad bowl und melting pot. – In den USA ist die Frage ungeklärt, ob das Land ein Schmelztiegel von Kulturen und Nationen ist (melting pot) oder ob alle wie Salatblätter in einer Schüssel (salad bowl) nebeneinander liegen. Insofern ist New York ein Abbild der USA. Zugleich ist es unendlich weit vom Mittleren Westen entfernt. Dennoch oder gerade deshalb ist die Stadt eine Reise wert.

Der nächste Artikel verfolgt die Ostküste weiter bis nach Südflorida.

Text/Foto: UM

 

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