1946 2016

14. März 2016

Geschichte wiederholt sich

Flüchtlinge – Flüchtlingsströme –  Flüchtlingsunterkünfte –   Flüchtlingsschicksale

 Das  sind in diesem Winter die  am häufigsten genannten Begriffe, und wo immer Menschen sich zusammen finden, wird die „Flüchtlingskrise “  unweigerlich zum Gegenstand der Unterhaltung.

Dabei reagieren sie ganz unterschiedlich.

Die einen sind offen, mitfühlend und hilfsbereit, andere wiederum zeigen

Skepsis, Misstrauen, bis hin zu Ablehnung.

Aber wie auch immer, die „Völkerwanderung“ heute hat  Europa und seine   Bewohner verunsichert.

Vor genau 70 Jahren  hatten wir in unserem zerbombten, verarmten  Land fast   die gleiche Krise durchzustehen, die gleichen Probleme zu bewältigen.

Hatten sich bereits in den eisigkalten Wintermonaten 1945 endlose Menschenströme aus Ost – und Westpreußen sowie aus Pommern vor der heran- nahenden russischen „Roten Armee“  unter furchtbaren Strapazen und Bedrohungen in den Westen Deutschlands aufgemacht, folgte  1946 die zweite Flüchtlingswelle, diesmal aus Schlesien.

Der Diktator Stalin hatte Gebiete längs der polnisch-weißrussischen und polnisch-ukrainischen Grenze für die Sowjetunion reklamiert. Die dort lebenden Polen wurden, auch gegen ihren Willen, in den Westen  nach Ober/ Niederschlesien, in das Oder-Neiße Gebiet und in das Riesengebirge umgesiedelt.

Die dort lebenden Deutschen hatten binnen 48 Stunden ihre Dörfer und Städte, ihre Höfe und   Häuser zu verlassen und in den Westen zu ziehen.

Sie mussten alles zurücklassen, was sie nicht im Handgepäck tragen konnten.

So kamen im Laufe des Jahres 1946 einige Millionen Flüchtlinge  – im eigentlichen Sinne  Heimatvertriebene – auch bei uns im Emsland, im Osnabrücker Land  und im nördlichen Münsterland an.

Ich war damals 6 Jahre alt und im 1. Schuljahr und erinnere mich noch genau, wie eines Morgens ein Lastwagen mit offener Ladefläche  auf dem Parkplatz vor dem elterlichen Gasthof hielt und viele Menschen, meist Frauen, Kinder und ältere Männer mühsam herunterstiegen. Sie waren das erste „Kontingent“, das der Gemeinde zugeteilt worden war.

Nun standen sie übermüdet und hilflos und gezeichnet von den Strapazen der Flucht auf dem Platz in dem fremden Dorf  und warteten darauf, dass  ein Vertreter der Gemeinde sich um sie kümmerte.

Mein Vater, der immer ein weiches Herz hatte, trat vor das Haus, ging auf

die fremden Menschen zu und lud sie ein in unser Lokal, ins Warme zu kommen.

Zögernd folgten sie der Einladung. Drinnen bekamen sie etwas zu trinken und konnten sich aufwärmen, bis der Bürgermeister mit seinen Leuten erschien und ihren weiteren Verbleib regelte.

Wo immer es möglich war, mussten die Einwohner unseres Dorfes Flüchtlinge aufnehmen. Das ging natürlich nicht ohne Komplikationen vonstatten, denn fast jeder hatte in den zurückliegenden Jahren des 2. Weltkrieges gelitten. Viele Familien hatten ihre Männer und Söhne verloren, die Menschen waren zermürbt von den Bombennächten, den mageren Lebensmittelzuteilungen, der ständigen Bedrohung durch die allgegenwärtige Gestapo.

Und nun, als endlich Ruhe   eingekehrt war, sollte man fremde Leute bei sich aufnehmen.

Deutsche  wie wir, gewiss,  Menschen, die auf der Flucht schreckliche Dinge erlebt hatten, ja, sicher, aber doch so anders als wir. Unsere Alltagssprache war damals das Plattdeutsche.

Für die Neuankömmlinge war das eine unverständliche Mundart, mit der sie nicht viel anzufangen wussten.

Also musste man Hochdeutsch mit ihnen sprechen. Aber wie eigenartig

war deren Hochdeutsch! Die Schlesier sprachen zum Beispiel das -ü- wie ein langes -ie- .So wurde aus Osnabrück Osnabriek, aus Münster Mienster, aus Brühe  Briee.

Sie sagten oft,sie kämen von „drieben“ und die Mutter war eine „Muttel“. Wir Kinder kicherten, wenn wir diese ungewohnte Ausdrucksweise hörten.

Auch in der Schule machte sich die neue Situation bemerkbar.

Im Jahre 1946 war das erste Schuljahr ein sehr starker Jahrgang, da 1945 wegen des Zusammenbruchs (so nannten die Erwachsenen das Ende der Hitler-Ära) nicht eingeschult worden war.

Nun kamen  fast täglich neue Mitschüler/innen dazu. Man wartete nicht bis zu den Ferien oder wenigstens bis zum Beginn eines neuen Monats.

Mit jeder Gruppe von Vertriebenen kamen auch Kinder in die Schule, die bald aus allen Nähten platzte.

Nachmittagsunterricht musste eingerichtet werden.

Die Flüchtlingskinder-wie wir sie nannten-   sahen aus wie wir und waren gekleidet wie wir,     konnten ebenso gut oder  schlecht lesen, rechnen, schreiben wie wir, aber sie waren „anders’‘.

Manche waren  evangelisch. Noch nie hatten wir davon gehört, dass es auch andere Christen gab als  katholische. Waren das etwa die „Heidenkinder“, für welche wir beim Abendgebet beten mussten?

Auf dem Schulhof, in den Pausen, waren die Neuen zunächst isoliert. Man spielte nicht mit Flüchtlingskindern.

Aber nach und  nach  veränderte sich die Situation. Kinder finden  leichter zueinander als Erwachsene.

Beim Völkerballspiel wurden sie auch in die jeweilige Mannschaft gewählt und nachmittags gingen wir zu ihren Unterkünften, um zu sehen, wie sie wohnten.

Die Erwachsenen waren skeptischer.

Viele Schlesier waren in ihrer Heimat Bauern.

Nun standen sie mit leeren Händen ohne eigene Scholle da. Als der erste einheimische Landwirt, der einen ziemlich großen Hof besaß, einen Flüchtling als Helfer einstellte, liefen die Kollegen Sturm.

Der neue Knecht erwies sich jedoch als eine Bereicherung für den Hof, denn er war ein exzellenter  Landwirt. Da änderte sich die Meinung der anderen Bauern.

Aber nicht immer wendete sich alles zum Positiven.

Das bekamen auch meine Eltern zu spüren. Sie hatten sich seinerzeit als erste

der Flüchtlinge angenommen, als diese ohne Hoffnung auf Zukunft in unserm Dorf angekommen  waren. Die Vertriebenen hatten das nicht vergessen. Als sich alles etwas beruhigt hatte und die Menschen sich bei uns eingerichtet hatten,  blieben sie meinem Elternhaus treu und verkehrten  als Gäste in unserem Gasthof. Dafür aber hielten sich andere, alteigesessene Kunden fortan fern. „Im Posthorn kann man sein Bier nicht mehr trinken, dort verkehren ja nun die von „drieben“ (drüben) , hieß es.

7O Jahre sind seitdem ins Land gegangen und wir, die Nachkriegsgeneration und die Enkel jener Vertriebenen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten, wir sehen uns heute einer ähnlichen Situation gegenüber: Entwurzelte, vor Gewalt und Kriegswirren aus ihren Heimatländern geflüchtete Menschen suchen bei uns Schutz.

Wie wird sich ihr Schicksal bei uns entwickeln?

Text: Rita Anneken

  

  

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