Getürkt- ein Theaterstück über Identität und Integration

2. Juni 2015

Sögel – Wie würde man sich fühlen, wenn man plötzlich kein Recht mehr hätte in Deutschland zu sein? Wenn das Zuhause, die Freunde, das Leben sich vom einen auf den anderen Tag in ein großes Nichts auflösen und man stattdessen gezwungen ist, einen Neuanfang in einem fremden Land, dessen Sprache man nicht spricht und dessen Kultur man nur vom Hörensagen kennt, zu wagen? Ein beängstigendes Szenario mit dem der Kulturkreis Clemenswerth im März die Schüler des Hümmling- Gymnasiums in der Aula desselben konfrontierte.

Musa ist 18. Das ist alles, was er von sich mit Sicherheit sagen kann, denn alles, was ihm seine Eltern über seine Herkunft und Vergangenheit im Libanon erzählt haben, entpuppt sich als Lüge. Musa (Sinan Hancili) ist der Sohn türkischer Eltern, die in den 80ern mit einer Welle libanesischer Flüchtlinge nach Deutschland gekommen sind und sich so Asyl gesichert haben. Er ist Türke und soll deshalb zurück in die Türkei. Allerdings fühlt sich Musa als Deutscher, er ist in Berlin groß geworden, mit der türkischen Kultur hat er nichts am Hut, und er wehrt sich mit allen Mitteln gegen seine Abschiebung, sodass er schließlich ins „Abschiebegefängnis“ kommt.

Hier beginnt das Stück. Die Bühne wird von mehreren Transportkisten beherrscht, die je nach Szenario in eine Zelle, ein Bibliotheksregal oder auch eine Moschee verwandelt werden können, jedoch nie ihre kalte und auf Aufbruch drängende Wirkung verlieren.

Man erlebt Musa mit seinem Zellenkumpanen, dessen abgeklärte, kaltschnäuzige Art einem wie ein Schlag ins Gesicht erscheint, im Gespräch mit seiner Freundin Ceren (Elmira Rafizadeh), die ebenfalls türkische Wurzeln hat und Musa helfen möchte, sich an den Gedanken, ab jetzt in der Türkei zu leben, zu gewöhnen. Allerdings ist diese Mühe vergeblich, symbolisch wird ihr Versagen durch einen Tanz auf dem Seil ausgedrückt, den sie trotz aller Mühe nicht vollenden kann. Musa wird schließlich in die Türkei gebracht und lässt sich dort ziellos treiben, schläft in Moscheen und als Ceren ihn besucht, ist er so verzweifelt, dass er versucht sie zu töten, worauf Ceren wieder nach Deutschland fliegt. Musas Schicksal in der Türkei bleibt ungewiss.

Hancili schafft einen lebhaften und authentischen Musa, der durch fast poetische Monologe an Tiefe gewinnt und das Publikum bis nach der letzten Szene fesselt.

Auch Rafizadeh hat keine Schwierigkeiten Ceren als starke und doch sensible Frau zu verkörpern und ihr zugleich einen persönlichen Touch zu geben, der nachdrücklich dafür sorgen wird, dass sie im Gedächtnis bleibt.

Das System, welches die Abschiebung befiehlt, wird durch Fabienne Trüssel und Hans H. Diehl verkörpert. Beiden gelingt es, sowohl durch eingespielte Kameraszenen als auch durch direktes Agieren auf der Bühne eine treffende Skizze der wohl hässlichsten Seite deutschen Beamtentums zu entwerfen, wenn auch die Charaktere der dargestellten Figuren keine Ehrfurcht gebieten, so doch die Diversität der eingesetzten Medien.

Des Weiteren ist auch die Flexibilität Trüssels und Diehls zu loben, es obliegt diesen beiden, ein Sammelsurium weiterer Nebenrollen zu verkörpern, welches von einer genervten Bibliothekarin bis hin zu einem türkischen Transvestiten reicht. Vor dieser gelungenen Umsetzung muss man den Hut ziehen.

„Getürkt“ ist ein Stück, welches aus den Schicksalen der vielen Asylbewerber eines herausgreift und dadurch mitreißt. Das Mitleid mit Musa ist groß, und durch die außerordentliche Darstellung kann man gar nicht anders, als sich ähnlich empört zu fühlen, wie beim Lesen von Kafkas „Prozess“, dessen erster Satz den Auftakt zum Stück darstellt: „Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne das er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.“

Text: Rezension von Felicitas Ehrhardt

 

 

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