Ein Stockwerk in einem Studentenwohnheim ist ein sozialer Mikrokosmos. Es gibt den eher schüchternen und den kompromisslos offenen Typen, Einzelgänger und Herdentiere, „langhaarige Bombenleger“ und bürgerlich Konservative. So ein bunt zusammengewürfelter Haufen erfordert einige Fähigkeiten, damit das Zusammenleben funktioniert. Sich aus dem Weg zu gehen, ist dabei auf Dauer nicht die beste und außerdem auch keine praktikable Lösung.

Ein Leben im Studentenwohnheim mit 15 sehr unterschiedlichen Charakteren ist eine echte Lebensschule, nicht im praktischen Sinne – denn weil hier ja nur Studenten wohnen,  gibt es schließlich den Hausmeister, sondern vielmehr im zwischenmenschlichen Umgang.

Man wird mit anderen Lebensentwürfen, Zielen und Wertvorstellungen konfrontiert, ist vielleicht zunächst irritiert und stellt dann fest, welch interessante Geschichte sich hinter dieser Persönlichkeit verbirgt. Und wenn sich das Gespräch erst einmal entwickelt, kommt so manche spannende Diskussion dabei heraus. Auf einem Stockwerk sind ja nicht nur unterschiedliche Biographien versammelt. Biologen, Romanisten, Theologen, Religionswissenschaftler, Politologen, Juristen – die Bandbreite der Fächer macht aus einem Küchengespräch das ein ums andere Mal ein interdisziplinäres Kolloquium. Den eigenen Standpunkt behaupten, andere Positionen respektieren, sich überzeugen lassen und eine fehlerhafte Sicht auf die Dinge eingestehen, sind Fähigkeiten, die dabei geschult werden.

Am wichtigsten ist aber ein guter Wille – und die schmerzhafte Erkenntnis, wenn dieser ausgenutzt wird. Wenn man zum zehnten Mal die Fettschicht und Brandreste vom Ceranfeld entfernt, fällt es schwer, noch an eine gemeinsame Verantwortungsbereitschaft für Gemeinschaftsräume zu glauben. Ein tugendhaftes Vorbild ist dabei wenig erfolgreich. Meist bleibt nur die gute alte Schimpftirade – mit dem positiven Nebeneffekt, dass ich meine Eltern jetzt viel besser verstehe…

Text: Josef Becker, Tübingen