Integration nach 1945 (in Niedersachsen)

Zuwanderung und Integration nach 1945 (in Niedersachsen) – eine persönliche Sichtweise von Heribert Tolkmitt

Das Land Niedersachsen wurde in der Vergangenheit und wird auch in der Gegenwart hinsichtlich der Bevölkerung, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur durch Zuwanderung und Integration geprägt.

Vier unterschiedliche Gruppen von Zuwanderern sind zu unterscheiden:

  1. Deutsche Flüchtlinge und Vertriebene
  2. Arbeitsmigranten/innen
  3. Aussiedler/innen und Spätaussiedler/innen
  4. Ausländische Flüchtlinge und Asylsuchende

Diese Zuwanderung geschah zu verschiedenen zeitlichen Phasen, in unterschiedlicher Größenordung und aus ganz spezifischen Gründen, genauso vielfältig sind die Herkunftsregionen. Viele von ihnen, die nach Niedersachsen kamen, sind geblieben und haben ganz entscheidend an der Entwicklung des Landes mit gewirkt.

Die deutschen Flüchtlinge und Vertriebenen stellen zahlenmäßig die bedeutendste der vier Zuwanderergruppen seit 1945 dar. 14 Millionen Deutsche verlassen Ende 1944/Anfang 1945 ihre Heimat, werden deportiert oder in die Flucht geschlagen. In unzähligen Trecks drängen Flüchtlingsströme aus den ehemaligen deutschen Gebieten Ostpreußen, Pommern, Brandenburg und Schlesien in den Westen. Schlecht ausgerüstet, ohne ausreichende Lebensmittel und den militärischen Kräften schutzlos ausgeliefert, begeben sich die Deutschen auf einen Leidenszug quer durch das zerstörte Land gen Westen.

Bei der ersten auf Anordnung des Alliierten Kontrollrats durchgeführten Volkszählung im Oktober 1946 werden 9,6 Millionen Flüchtlinge in den vier Besatzungszonen  gezählt, davon in Niedersachen ca. 1,48 Millionen (23,4 %) Flüchtlinge und Vertriebene. Bis 1949 erhöhte sich die Zahl auf 1,8 Millionen, was einem Anteil an der niedersächsischen Gesamtbevölkerung von 26,4 % entsprach. Flucht und Vertreibung als Folge des von Deutschland begonnenen Krieges  hatten diesen Menschen unvorstellbares Leid zugefügt. Außer dem Verlust von Heimat und Besitz hatten viele von ihnen auch den Verlust nahe stehender Menschen – Familienangehörige, Verwandte, Freunde und Nachbarn – erleben müssen.  Die von diesen negativen emotionalen  Erlebnissen und unsäglichen Strapazen belasteten Menschen kamen nach manchmal jahrelangen Odysseen mittellos an in Städten, die von den Kriegswirren zerstört waren, sie stießen hier auf Einheimische, die selbst unter den Folgen dieses barbarischen Krieges zu zerbrechen drohten. Die Unterbringung der Vertriebenen stellte zunächst die gewichtigste und in der Praxis am schwierigsten zu bewältigende Aufgabe dar. Sie wurde in den westlichen Besatzungszonen zunächst mittels einer rigiden Wohnungszwangswirtschaft bewältigt. Ehemalige Kasernen, leere (häufig schwer beschädigte) Fabrikhallen, Hotels, Bunkeranlagen, Zwangsarbeiterlager u.ä. wurden zu Massenunterkünften umfunktioniert. Bei der Suche und Auswahl von Wohnraum konnte man nicht wählerisch vorgehen, zumal die Wohnungsnot durch die Rückkehr vieler „Stadtflüchtlinge“ noch schlimmer wurde.

In kleinen Städten und im ländlichen Raum waren die  Folgen des Krieges  bis auf Ausnahmen nicht so dramatisch ausgefallen. Hier wurden die Neubürger aus dem Osten von der kommunalen Wohnraumbewirtschaftung direkt in den Wohnungen der Einheimischen untergebracht. In den ersten Wochen und Monaten stießen die Flüchtlinge und Vertriebenen bei den Einheimischen auf Mitgefühl: Die einen wie die anderen waren davon überzeugt, die Einquartierungen seien vorübergehend. Als sich dann abzeichnete, dass die Ostdeutschen bleiben würden, gab es vielerorts Ärger, denn die Wohnungsbewirtschaftung führte dazu, dass Alteingesessene Zimmer an Vertriebene abtreten mussten. In den westlichen Zonen lebten nun pro Quadratkilometer weit über 200 Menschen statt wie vor dem Krieg 160.

In dieser räumlichen Enge entstanden Extremsituationen, die zu schier unlösbaren  Problemen zwischen Einheimischen und Fremden führten. Aber auch unzählige Beispiele von  Hilfsbereitschaft und Nächstenliebe den Fremden gegenüber waren Beweise herzlicher Aufnahme. (unsere Familie hat dieses in Harrenstätte so erlebt – mit Dankbarkeit denken wir daran)

Außerhalb des Wohnens kam es natürlich  auch zu Konflikten zwischen Einheimischen und Flüchtlingen, denn, wo Menschen unterschiedlicher sozialer Herkunft, Konfession und Bildung zusammentrafen, da mussten zwangsläufig Spannungen und Konflikte auftreten. Die Vertriebenen befanden sich in einem Dilemma. Einerseits wurden sie von der alteingesessenen Bevölkerung nicht mit offenen Armen aufgenommen (durchaus verständlich). Auf der anderen Seite wollten sie ja so schnell wie möglich in ihre Heimat zurückkehren. Deshalb erschien eine dauerhafte Eingliederung zunächst nicht notwendig, was natürlich eine Fehleinschätzung war. In einigen Orten der Bundesrepublik wurden erst Anfang der 70er Jahre die letzten Baracken aufgelöst, in denen Flüchtlinge seit 1945 gelebt hatten.
Kritisches Fazit: Die „erfolgreiche Integration“ von annähernd 10 Millionen Vertriebenen und Flüchtlingen in die bundesdeutsche Gesellschaft, in  Schulbüchern, Festschriften und in feierlichen Anlässen gerne „als überaus gelungen“ erwähnt und hervorgehoben, gab es so nie und gehört zu den Gründungsmythen der Bundesrepublik. Bundespräsident Johannes Rau bringt es  in seiner „Berliner Rede“ im Juli 2000 auf den Punkt: „Diese letztlich erfolgreiche Integration war am Anfang alles andere als leicht, obwohl Deutsche nach Deutschland kamen. Viele werden nicht vergessen, auf wie viel Ablehnung sie nicht nur in Dörfern und Kleinstädten gestoßen sind – obwohl sie schwerstes Leid getragen hatten, obwohl sie dieselbe deutsche Sprache sprachen, obwohl sie zur gleichen Kultur gehörten, oft sogar zur selben Konfession wie ihre neuen Mitbürger.“

Andrerseits haben auch die Einheimischen berechtigte Gründe gehabt, den  neuen „Fremden“ mit Argwohn zu begegnen.

Wer wollte das miteinander aufrechnen?

Heute leben nur noch wenige Frauen und Männer der  „Erlebnisgeneration“ als Zeugen dieser Zeit. Ich als Kind dieser Generation habe erlebt, wie die entwurzelten Eltern darum gekämpft haben, in der neuen Heimat anzukommen, wie sie um den Verlust ihrer Heimat offen oder in sich gekehrt getrauert haben. Ich selbst, 1943 in Ostpreußen geboren, der ich meine Heimat nur vom Erzählen her kenne, bin als Kind und auch noch als Jugendlicher ambivalent aufgewachsen mit meinen heimatlichen Gefühlsschwankungen. Heute ist Ostpreußen meine Heimat, da sind meine Wurzeln, der Hümmling aber ist mein Zuhause, hier fühle ich mich ausgesprochen wohl und akzeptiert. Meine eigenen Kinder, als dritte Generation aufgewachsen, sind selbstbewusste Einheimische mit „Migrationshintergrund“ durch ihre Großeltern und einen  Elternteil.

Heute hat jede dritte Familie in Niedersachsen einen Vertriebenenbezug, auch wenn zahlreiche junge Menschen dieses nicht mehr wissen. Schade, denn das Kennen seiner eigenen Wurzeln hilft, seinen eigenen Weg im Leben zu finden.

Heute, 65 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges, sind die Wunden des Krieges und der Vertreibung und Flucht fast unsichtbar vernarbt. Die Geschichte hat es mit den Deutschen gut gemeint, denn… wer hätte 1945 sich vorstellen können, wie schnell und erfolgreich sich dieses neue Deutschland wieder in die Weltgemeinschaft eingliedern und dort auch an hervorragender Position behaupten kann. Selbst die Wiedervereinigung ist unglaubliche zwei Jahrzehnte Geschichte, trotz vieler negativer Zwischenrufe einiger Unverbesserlicher und Pessimisten eine Erfolgsstory ungeahnten Ausmaßes.

Die Diskussion über Migration und Migranten in Deutschland heute sollte fair geführt werden. Nicht das flegelhafte Auftreten einiger ausländischer Machos in den täglichen „Nachmittagstalks“ oder andere Negativschlagzeilen dürfen Grundlage unserer Meinungsbildung sein. Nehmen wir nicht nur bewusst  die schlechten Seiten wahr, sondern erkennen wir die überwiegenden guten Aspekte an, die durch diese  Neubürger in unsere Gesellschaft eingebracht werden.

Seien wir aber auch stolz darüber, dass ausländische Flüchtlinge und Asylsuchende unser schönes Land als sicheren Zufluchtsort wählen, das war zu Zeiten eines „Tausendjährigen Reiches“ schon einmal ganz anders.

Die Aussiedlerinnen und Aussiedler aus den ehemaligen kommunistischen Ländern des Ostblocks haben sich binnen kurzer Zeit in unsere westliche Gesellschaft integrieren lassen. Die Pflege ihrer Sprache und ihres Brauchtums sollte man ihnen nicht verwehren oder ankreiden. Die Entwicklung auch unserer Gemeinde Sögel hat durch den Zuzug dieser Familien gewaltig an Fahrt aufgenommen, dass können wir ohne „Wenn und Aber“ eingestehen. Unter dem Aspekt des demographischen Wandels wird dieser spezielle Zuzug noch ganz andere Dimensionen bekommen.

Die Flüchtlinge und Vertriebenen haben nach 1945  als Neubürger einen großen Beitrag für die Modernisierung der jungen Bundesrepublik Deutschland geleistet. „Gerade auf dem Land leisteten sie einen substanziellen Beitrag zur Entprovinzialisierung, Säkularisierung und Urbanisierung Deutschlands.“ Den anfangs unwillkommenen Zuwanderern verdankt unser Land einen wesentlichen Teil jener Modernisierung, auf die heute jeder Deutsche stolz sein kann und sein sollte.

Die deutsche Geschichte ist eine Geschichte von Migration, Integration und oft auch – nach vielen Generationen erst – kultureller Verschmelzung. Jede der Zuzugswellen hat bei uns Spuren hinterlassen, hat unsere heutige Kultur mit geprägt.

Sollten wir es nicht auch bei diesem Thema halten mit jenem großen Deutschen, der frei ist jeglicher Parteilichkeit:

„Das Land, das die Fremden nicht beschützt, geht bald unter“ (Goethe)

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